Der Traum alternativer

Parteien und Verbände

„Projekt 10/17”

Hoch- und Niederflur

Systementscheidung Hoch-/Niederflur 2012

Visualisierung Hochbahnsteige Unger­straße und Leinaustraße (TransTecBau)
Visualisierung Hochbahnsteige Unger­straße und Leinaustraße (TransTecBau)

Am 12. Januar 2012 wurde dem Verkehrs­ausschuss der Region die Bewertung der Arbeitsgruppe Niederflur–Hochflur vor­ge­tragen, am 13. Januar wurde dies eben­falls bei der „Region im Dialog” der Öffent­lich­keit vorgestellt. Die Arbeits­gruppe bestand aus Vertretern der Landes­haupt­stadt Hannover, der Region Hannover, Üstra, Regio-Bus und Infra sowie dem Kasseler Nieder­flur­experten Rainer Meyfarth. Plan­erstellungen und Kosten­abschät­zungen lieferte dazu die TransTecBau, Kosten für den Umbau von Werk­stätten, für Fahr­zeuge und Schulungen berechnete die Üstra.

Untersucht wurde der Abschnitt von Ahlem bis zum Rasch­platz (Vorzugs­variante). Dabei wurden nur die Kriterien berück­sichtigt, die bei den Varianten Nieder­flur und Hoch­flur unter­schiedlich sind. Dazu gehören ein weit­gehend gleicher Ausbau­standard und alle Halte­stellen zwischen Ahlem und Rasch­platz wurden für Nieder­flur und Hoch­flur aufgetragen und monetär bewertet. Zahl­reiche weitere Einzel­kriterien wurden bewertet, die Analyse differen­zierter Einzel­kriterien wurde schließlich in ein Bewertungs­schema mit fünf Ziel­feldern integriert. Diese wurden der Politik und der Öffent­lichkeit zusammen­fassend präsentiert. Bis Frühjahr 2012 sollte die Politik eine System­entscheidung fällen.

Zielfelder waren

  • A Wirtschaftlichkeit: Bewertungs­kriterien waren hier die Investitions­kosten, Betriebs­kosten und der Kosten­saldo pro Jahr
  • B Stadtverträglichkeit: Bewertungs­kriterien waren hier die städte­bauliche Integrier­barkeit der Halte­stellen, die Verkehrs­abwicklung und Ergebnisse vom Runden Tisch Limmer­straße.
  • C Barrierefreiheit und Komfort: Bewertungs­kriterien waren hier die Barriere­freiheit, Halte­stellen­komfort und der Fahrzeug­vergleich.
  • D Verkehrliche Kriterien ÖPNV: Bewertungs­kriterien waren hier das Nutzer­potenzial ÖPNV sowie die Netz­flexibilität.
  • E Realisierung: Bewertungs­kriterien waren die Förder­fähigkeit und Finanzierung sowie der Realisierungs­horizont.

Im Einzelnen sind diese Ergebnisse für die System­entscheidung Hochflur oder Niederflur zusammengefasst wiedergegeben.


A Wirtschaftlichkeit

Obwohl sich einige Faktoren nicht genau berechnen lassen, steht unter dem Strich eine wichtige Zahl: zusammen­gefasst ist ein Nieder­flur­system 820.000 Euro pro Jahr teurer als das bisherige Hochflur-Stadt­bahn­system. Auch wenn die einmalig anfallenden Zusatz­kosten von rund 3,8 Millionen als jähr­liche Abschreibungen berücksichtigt, entstehen weiter höhere Kosten durch neue Fahrzeuge, von denen 25 angeschafft werden müssten. Bisher ausgehandelte Rabatte für die „Silberpfeile” würden zum Teil verfallen. Beim Unterhalt, also den laufenden Kosten, schneidet die Nieder­flur­technik deutlich schlechter ab: Verschleiß, Wartung und Schulung eines weiteren Systems schlägt jährlich schon mit ca. 600.000 Euro zu Buche. Da alle Zahlen leicht variieren können, legt sich der Arbeitskreis auf Niederflur-Mehrkosten pro Jahr von 500.000 bis eine Million Euro fest. Fazit:

Vorteile für das Hochflursystem

B Stadtverträglichkeit

Dieser Punkt ist das einzige Bewertungskriterium, bei dem der Arbeitskreis Vorteile für das Nieder­flur­system sieht. Nieder­flur­bahnsteige ließen sich besser in den Straßen­raum integrieren, vor allem in der belebten Limmer­straße bleibt dadurch mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer. Seit langem befürchten Anwohner dort, dass Hoch­bahn­steige wie Barrieren wirken könnten. Durch die teil­weise Heraus­nahme der Bahn­steige aus der Limmer­straße (Halte­stellen Unger­straße, Leinau­straße und Küchen­garten) ist dieses Problem aber beseitigt. Kürzere Zuglängen (50 bis 56 m) ermöglichen eine Verbesserung der städte­baulichen Integrier­barkeit der Haltevstellen bei beiden Varianten, die Bahnsteige wären nur noch 50 statt bisher geplante 70 Meter lang. Zur Kompensierung dieses Verlustes an Kapazität müsste sich aber der Takt auf fünf Minuten erhöhen, was wiederum Probleme in der Innenstadt bedeuten könnte. Fazit:

Vorteile für das Niederflursystem

C Barrierefreiheit und Komfort

Die Barrierefreiheit aller Haltestellen der Stadt­bahn­linie 10 steht im Vorder­grund und ist eines der Haupt­argumente für den Umbau der D-Linie. Die Anforderungen an die Barriere­freiheit kann in beiden Varianten erfüllt werden. Es gibt aber Unter­schiede: Die Zugäng­lich­keit zu den Halte­stellen ist bei der Nieder­flur­variante einfacher. Kinder­wagen und Roll­stühle hätten bei den flacheren Nieder­flur­bahn­steigen weniger Probleme. Dafür sehen die Experten einen Nachteil in den Bahnen selbst. Ein Hoch­flur­fahr­zeug hat system­bedingte Vorteile gegenüber einem Nieder­flur­fahr­zeug, weil es leiser und lauf­ruhiger fährt und im Fahr­gast­raum eine flexiblere Gestaltung des Innen­raums ermöglicht. In Nieder­flur­bahnen sind die Einstiege fast ebenerdig, dafür ragen die Radkästen in das Innere der Wagen hinein, was Platz und Gestaltungs­möglichkeiten einschränkt. Bei diesem Kriterium liegen die Systeme also gleichauf. Fazit:

Patt zwischen Niederflur- und Hochflursystem

D Verkehrliche Kriterien

Bei der Hoch­flur­variante bleibt die Netz­flexibilität zwischen den Stadt­bahn­strecken bestehen. Die Fahrzeuge können alle Strecken befahren. Der Nacht­stern­verkehr und die morgend­lichen Expresszüge, bei dem die Linie 10 durch die Humboldt­straße in den A-Tunnel zum Haupt­bahnhof geleitet wird (der sogenannte „Scheel­haase-Lösung” nutzt diese Strecke) sind die besten Beispiele. Dies wäre für die Bahnen nicht mehr möglich, wenn sie auf Nieder­flur umgerüstet würden, weil die Züge dann nicht mehr kompatibel mit den hohen Bahn­steigen der Tunnel­stationen wären. Auch bei Störungen im Netz könnten Nieder­flur­bahnen nicht problemlos über andere Strecken­abschnitte umgeleitet werden. Im Falle einer größeren Anzahl von Fahr­zeug­ausfällen müssten möglicher­weise auch Hoch­flur­bahnen als Ersatz auf dem Nieder­flur­netz fahren. Die Barriere­freiheit wäre dann jedoch nicht mehr gewährleistet. Um das zu vermeiden, müsste man mehr in Nieder­flur-Ersatzbahnen investieren. Fazit:

Vorteile für das Hochflursystem

E Umsetzung

Grundsätzlich lassen sich beide Varianten realisieren. Dennoch gibt es bei der Umsetzung des Hoch­flur­systems laut Empfehlung leichte Vorteile gegenüber dem Nieder­flur­system. Barriere­freie Hoch­bahn­steige ließen sich bereits vor 2017 einrichten. Bei einer Umstellung auf ein Nieder­flur­system lassen sich die Vorteile durch den Umbau erst nach Bereit­stellung der neuen Fahr­zeuge realisieren. Dies wäre jedoch voraussichtlich frühestens 2017/2018 der Fall. Allerdings gäbe es dann Verbesserungen an all den Halte­stellen, die bis dahin noch nicht umgebaut worden sind. Fazit:

Leichte Vorteile für das Hochflursystem

Gesamtbewertung der Arbeitsgruppe

Zielfelder Bewertungskriterien Niederflur Hochflur
A Wirtschaftlichkeit Investitionskosten
Betriebskosten
Kostensaldo pro Jahr
 

B Stadtverträglichkeit Städtebauliche Integrierbarkeit der Haltestellen
Verkehrsabwicklung
Runder Tisch Limmerstraße

 
C Barrierefreiheit und Komfort Barrierefreiheit
Haltestellenkomfort
Fahrzeugvergleich

D Verkehrliche Kriterien ÖPNV Nutzerpotenzial ÖPNV
Netzflexibilität
 

E Realisierung Förderfähigkeit/Finanzierung
Realisierungshorizont
 

Gesamtbewertung    

So ging es weiter

Im Frühjahr 2012 wollte die Region eine grundlegende Entscheidung der Regionspolitik darüber, welches System auf der Stadtbahnlinie 10 umgesetzt werden sollte. In der zweiten Hälfte 2012 sollten dann in enger Abstimmung mit der Stadt die städtebaulichen Planungen beginnen. Offene Fragen blieben dabei noch die Förderfähigkeit der Niederflurvariante sowie die Machbarkeit einer Betriebserlaubnis für die (Hochflur-) Linie 17 auf einer Niederflurstrecke.

Das Fazit der Arbeitsgruppe: vorgestellt wurden zwei stadtverträgliche und baulich machbare Varianten, von denen das neue Niederflursystem höheren Aufwand und Kosten mit sich bringt. Bei einer Gleichgewichtung der Zielfelder ergeben sich Vorteile für das Hochflursystem, weswegen sich die Arbeitsgruppe für die Beibehaltung des Hochflursystems ausspricht.

Bei der Frage Hoch- oder Niederflur handelte es sich um eine grund­legende strategische Weichen­stellung, denn aus Sicht der Region Hannover ist bei bloßer Komplettierung des Stadt­bahn­systems durch die D-Strecke die Hoch­flur­variante im Vorteil (dies war Gegen­stand der Unter­suchung der Arbeits­gruppe). Allerdings wurde die Entwicklung der D-Strecke als erster Baustein zur Entwicklung eines ergänzenden Niederflur-Netzes (wie vom VCD und den Grünen angedacht) betrachtet, weshalb die Nieder­flur­variante in den Fokus der alternativen Parteien rückte (trotz der Mehrkosten – wir erinnern uns: „Der D-Tunnel ist zu teuer”).

Niederflur-Streckenvorschläge

Netzplan von Daniel Gardemin (kommentiert)
Netzplan von Daniel Gardemin (kommentiert)

In einem Aufsatz vom März 2012 mit dem Titel „Nieder­flur – Chance für Hannovers Nah­verkehr, Erweiterungs­möglichkeiten des Stadt­bahn­systems“ behandelt Daniel Gardemin (Grüne) die Möglichkeiten von Neu­bau­strecken als Ergänzung zum etablierten Stadt­bahn­netz. Dabei werden auch Strecken vorgestellt, die 2012 als problematisch angesehen und aufgrund heftigen Wider­standes politisch wieder ad acta gelegt wurden, z. B. die Sall­straßen-Strecke. OB-Kandidat Marc Hans­mann lässt in seinem aktuellen Wahl­kampf 2019 zwei der Strecken von Gardemin wieder aufleben: die Strecke zum Hanomag-Gelände und zum Bismarck­bahnhof durch die Sallstraße.

Die Vorschläge von Daniel Gardemin mögen auf dem ersten Blick womöglich charmant aussehen, aber bei genauerer Betrachtung gibt es massige Probleme. Vielfach werden engste Straßen mit weniger als 20 Meter Breite durchfahren. Stark befahrene Knoten­punkte wie der Deisterplatz, die Kreuzung Laves­allee/Goethe­straße oder mehrere Kreuzungen im Cityring werden ebenerdig gekreuzt. Nicht zuletzt sind etliche neue Strecken Parallel­verkehre zu bestehenden Stadt­bahn-Ästen (die Strecke Hbf.–Aegi wurde zugunsten z. B. von „Projekt 10/17” als Parallel­verkehr zum B-Tunnel gebrand­markt und stillgelegt). In der Grafik aus dem Aufsatz von Herrn Gardemin werden die Netz­stränge deutlich und wurden von uns mit Kommentaren versehen.

Das tote Pferd wurde jahrelang weitergeritten – selbst 2022 wird noch Niederflur gefordert…

Cartoon „Totes Pferd”
Cartoon „Totes Pferd”

Bis zum Sommer 2018 haben sich bei den Grünen und Linken vereinzelt Forderungen nach einer eigenen Niederflur-Linie gehalten, obwohl die D-Strecke wie 2012 beschlossen nun komplett mit Hoch­bahn­steigen ausgebaut wurde. „Projekt 10/17” in der Innen­stadt mit seinen Hoch­bahn­steigen ist fast abgeschlossen, andere Bahn­steige sind zur Zeit schon beschlossen (z. B. Wunstorfer Straße oder Leinau­straße). Das hat viele Politiker nicht davon abgehalten, weiter auf Nieder­flur zu pochen. „Wenn dein Pferd tot ist, steig ab!“ – diese Redensart, meist als „Sprichwort der Dakota-Indianer“ deklariert, ist bei den Grünen erst sechs Jahre später angekommen. Mittlerweile hat man nun doch eine Werbe­seite für Niederflur-Bahnen unter dem Titel „Zukunft Stadtbahn” wieder abgestoßen und die URL freigegeben. Vielleicht hat sich nun doch die Erkenntnis durchgesetzt, dass man jahrelang auf eine teurere, inkopatible Insellösung gesetzt hat, nur um den Bau der ungeliebten Hochbahnsteige in Linden-Nord verhindern zu können. Dennoch ist sich etwa auch die LINKE im Sommer 2022 nicht zu schade, erneut eine Niederflurbahn für die Limmerstraße zu fordern. Tja  – da ist wohl jemand ebenfalls nicht rechtzeitig vom toten Pferd abgestiegen…